Blog2020-04-27T18:47:00+02:00

Paradoxien der Großzügigkeit: Dilemma der hedonischen und eudaimonischen Philanthropie.

In meinem letzten Beitrag habe ich über die Problematik des Aufschiebens der Verfassung des Vermächtnisses geschrieben. Wenn man wohlhabend ist, sollte man sich nicht nur von der Illusion befreien, das Vermögen in das Leben nach dem Tod mitzunehmen, sondern auch davon, dass man es vor dem Tod noch ausgeben könnte. Und zwar nicht nur aufgrund der quasi unmöglichen Vorherseh- oder Planbarkeit des Todes. Die Vernunft selbst wird einen daran hindern und noch viel Kopfzerbrechen bereiten, was nun der weisere Weg wäre, mit dem Vermögen umzugehen. Ist man in der Situation, großzügig sein zu können, und ist Großzügigkeit ein Wert im persönlicher Wert, so ist man mit den „Paradoxien der Großzügigkeit“ – wie Saul Levmore sie nennt – konfrontiert. In Bezug auf ihn möchte ich die erste Paradoxie hypothetisch an einem Beispiel verdeutlichen. Hier könnte es etwas theoretisch werden.

Nehmen wir an, Sie sind eine Person, die eine gewissen Summe für eine gute Sache zu spenden beabsichtigt. Sie stehen unmittelbar vor mindestens zwei Optionen: das Geld jetzt zu spenden oder es anzulegen, zu verzinsen und später eine noch höhere Summe zu spenden. Die erste Option liefert sofort eine augenblickliche Befriedigung des Bedürfnisses, der Sie zum Spenden motivierte. Eine direkte Spende erfüllt Sie mit der Freude der Tat und der damit verbundenen Dankbarkeit – eine Win-Win-Situation der hedonischen Wohltätigkeit, für die es an dieser Stelle keinen Grund und keine Rechtfertigung gibt, sie aufzuschieben. Auch die Berücksichtigung der Spende bei der nächsten Steuererklärung spricht dafür, bei der nächstmöglichen Gelegenheit davon zu profitieren. Sie können auch langfristig die Erbschaftsteuer dadurch verringern, wenn Sie die Geschenke vor Ihrem Tod machen. Auch die eventuellen Empfänger profitieren von der Wohltätigkeit sofort und können selbstbestimmt darüber verfügen, sie materiell oder finanziell zu investieren – eher jetzt als später.

Trotz der Plausibilität der Argumente ist das Paradoxe, dass sie auch für die andere Option der Verzögerung und Verzinsung angeführt werden können. Denn ein höherer Betrag kann sowohl die Freude der Wohltäter als auch jene der Empfänger steigern, samt ihrer Investitionsverfügung und dem daraus folgenden Profit. Levmore dazu:

„Dieser Grund für die Verzögerung wird am besten als Optionswert bezeichnet. Der Spender gleicht dem Besitzer des Optionsscheins, der durch Warten gewinnt, da er im Laufe der Zeit zusätzliche Informationen über alternative Investitionen bekommt. In diesem Fall übertrumpft der Optionswert wahrscheinlich jedes Argument für eine sofortige Spende; das Warten hat den Nutzen, dass man mehr Informationen gewinnt, und außerdem, dass er eine höhere Rendite als die Universität erzielen kann. Die einzigen Kosten bestehen darin, dass er die Freude daran, etwas Gutes zu tun, aufschiebt.“

Eben in dieser Plausibilität entfaltet sich die Paradoxie: Sollte es sinnvoll sein, die Spende über einen bestimmten Zeitraum aufzuschieben, um die daraus resultierenden Vorteile zu ziehen, ist es genauso sinnvoll diese in jedem Zeitraum aufzuschieben. Sie begeben sich in einen infiniten Progress, der zwar positiv klingt, demzufolge Sie aber sich nie von Ihrem Vermögen trennen und nie der Wohltätigkeit nachgehen. Dieselbe zweckrationale Vernunft wird Sie daran hindern permanent die teure Änderung des Testaments und damit einhergehende Formalitäten vorzunehmen. Die Unwahrscheinlichkeit der Planbarkeit des Todes und die zweckrationale Vernunft werden es Ihnen unmöglich machen, die Schenkung auf den unmittelbaren Zeitraum vor ihrem Tod aufzuschieben, um die Information und den Betrag maximal zu nutzen. „Sobald man eine Spende hinauszögert, kann es schwer werden, sie jemals zu tätigen. Eine wirklich wohltätige und großzügige Person sollte sich über das Problem besser nicht zu viel Gedanken machen“, so Levmore.

Wenn Sie der Welt Gutes tun möchten, verzetteln Sie sich nicht in Optionen. Der Wunsch, in der Welt Spuren zu hinterlassen ist so alt wie die Menschheit. Während die jungen Generationen um die Zukunft bangen, sich politisch organisieren und auf die Straße gehen, um die verschleppten Entscheidungen ihrer Eltern und Ahnen wiedergutzumachen, können Sie sofort und konkret handeln, um die Welt nachhaltig zu verbessern. Dieses Thema werde ich in meinen nächsten Beiträgen genauer unter die Lupe nehmen.

Von |Juli 16th, 2020|Kategorien: blog|0 Kommentare

Paradoxien der Großzügigkeit – Das Aufschieben

Da wir in einer Gesellschaft leben, in der – in der Terminologie Erich Fromms – die Existenzweise des Habens vorherrschend ist, möchte ich das Thema des Alterns und Habens vertiefen. Denn eben der Aktualität unserer Gesellschaft geschuldet ist ein großer Bedarf da. Bedenken wir zum Beispiel den Faktor der Vermögensaufteilung in der Familie wie im vorherigen Beitrag ausgeführt, bleibt es eine Herausforderung, die man gerade im fortgeschrittenen Alter eher vermeiden möchte. Auch wenn die intergenerationale Reziprozität der gegenseitigen finanziellen und sozialen Unterstützung bereits Tradition hat, neigen besonders wohlhabende Personen in einer besonders komplizierten Situation dazu, diese Tradition zu brechen. In diesem, aber auch in anderen Fällen, tappen diese Personen in die Falle der „Paradoxien der Großzügigkeit“, wie Saul Levmore sie nennt. Ein quälendes Phänomen, dass diese Paradoxien begleitet ist das Aufschieben.

Die Unsicherheit darüber, wie sich ihre Familien entwickeln und ob es ihren Wünschen entsprechen wird, verleitet wohlhabende Menschen nicht selten dazu, die Planung ihrer Vermächtnisse und ihren letzen Willen aufzuschieben. Sie entscheiden sich entweder dazu das Testament geheim zu halten, drohen es zu ändern oder weigern sich gar es zu verfassen. Ferner unterrichten sie ihre Familie über die öffentlichen oder wirtschaftlichen Wohltätigkeiten, die sie zu tätigen planen, sodass die potenziellen Erben sich mit wenig oder nichts begnügen müssen. Oft genug wird das Testament auch unreflektiert oder gar unbewusst aufgeschoben, um ein Mittel in der Hand zu behalten, das Verhalten der potenziellen Erben oder Begünstigten vorteilhaft zu beeinflussen oder die Pflege im Altern zu „erpressen“. Eine solche Strategie nimmt jedoch der alternden Person die Gelegenheit in Würde zu altern – die Ruhe ersetzen die meist gespielten Aufmerksamkeiten und Zuwendungen, die Liebe wird zweckrationalisiert, die Beziehungen zwischen den potenziellen WohltäterInnen und ihren Begünstigten, sowie zwischen den potenziellen Begünstigten untereinander, sind nachhaltig vergiftet. Die Ungewissheit, Eifer und Konkurrenz treiben alle in den Wahnsinn.

Aus einer weiteren Perspektive, die gegen das Aufschieben des Nachlasses spricht, ist die sehr wahrscheinliche Korruption der ansonsten intrinsischen Zuneigung zu der alternden Person durch extrinsische Motivation und die an sie gekoppelte Vergütung. Eine sonst aus dem Herzen kommende Liebe, Pflege und Aufmerksamkeit wird nun ihrer Qualität nach unter ein Damoklesschwert gestellt und verliert ihren Selbstzweck als aufrichtiger Ausdruck und wird zu einem Trauerspiel, einer Tragödie, einer Farce – die sonst selbständige Entscheidung wird nun fremdbestimmt. Auch der nächste Aspekt betrifft die Selbstbestimmung, jedoch gerade der WohltäterInnen selbst, und zwar schmerzhaft. Wie ich in meinem zweiten Beitrag beschrieben habe, bringt das Altern oft nicht nur den körperlichen Zerfall mit sich. Ein verschleppter Nachlass ist der Gefahr ausgesetzt, die Irrationalitäten und Hypersensibilitäten in die Entscheidung miteinfließen zu lassen, die die Person bei klarem Verstande als solche deuten und unterlassen würde. Es ist eine bittere Pille, die wir unter allen anderen Medikamenten schlucken müssen, wenn wir zu spät entscheiden. Es ist ein Segen, wenn wir im fortgeschrittenen Alter noch die mentale Klarheit und emotionale Stabilität behalten. Diesen Segen können wir jedoch nicht planen.

Ein Rat, den ich aus dieser Analyse und meiner Erfahrung ziehe, möchte ich vorwegnehmen: Sollte man es sich leisten können, wäre es sinnvoll genau den Teil vor dem Ableben nicht zu vererben oder zu verschenken, der die unabhängige Pflege sichert. So ist jegliche Zuneigung seitens der Angehörigen und insbesondere der Kinder von diesem Druck entkoppelt. Darüber hinaus ist eine ehrliche und offene Kommunikation zwischen den Generationen eine notwendige Bedingung, die möglichen Missverständnisse und damit einhergehende Konflikte zumindest zu reduzieren. Sowohl materielle als auch ideelle Gaben sollen hier ihren Tauschwert komplett verlieren, um Reziprozität anstatt Marktlogik walten zu lassen, um das Soziale nicht zu ökonomisieren und die Liebe nicht zu instrumentalisieren. Diese Gabe kann nur intrinsisch motiviert sein; die Dankbarkeit akzeptiert, aber nicht verlangt. Die Reziprozität kann einen aus der Zuneigung und Pflichtmoral drohenden Ruin und Elend vermeiden. Eine sich oft wiederholende Tragödie folgt dem Szenario, dass eine zumeist angeheiratete Person, zumeist Frau, zumeist zum zweiten Mal ihren Job aufgibt, um für die pflegebedürftigen Eltern ihres (in manchen Fällen sogar ehemaligen) Ehemannes zu sorgen. Es bedarf keine höheren Mathematik um abzusehen, dass diese Frau von ihrer Rente nicht leben können wird.

Abgesehen von den ausschließlich persönlichen Dimensionen lassen sich diese Überlegungen mit einer gewissen Transferleistung auch auf jene Fälle übertragen, wo der Nachlass in Beziehung zwischen Privatpersonen und Organisationen, oder auch umgekehrt eintritt. So können Privatpersonen ihr Vermögen an Organisationen übertragen, Organisationen an Privatpersonen und Organisationen an Organisationen. Meine persönliche Erfahrung hat gezeigt, dass, je höher die Komplexität eines solchen Transfer ausfällt, umso höhere Kompetenz abverlangt sie von der Dienstleistung, die sie begleitet. Für diese Philosophie und Kompetenz stehe ich mit meinem Namen und unserem Unternehmen.

Von |Juli 9th, 2020|Kategorien: blog|0 Kommentare

Altern und Haben

In meinem vorherigen Blogbeitrag habe ich mich in aller Kürze und im imaginären Dialog mit Martha Nussbaum mit der Existenzweise des Seins im Prozess des Alterns auseinandergesetzt. Nun möchte ich mich in Anlehnung an Erich Fromm auch mit dem Aspekt des Habens im Prozess des Alterns beschäftigen. Dabei werde ich mich auf meine eigene Erfahrung als Steuerberater und Stiftungsexperte berufen. Aber auch meinen nächsten imaginären Dialogpartner zu Rat ziehen: Saul Levmore, der sich mit Martha gemeinsam auch auf die Geschichte von „König Lear“ als Referenzpunkt bezieht und sich die Frage des Vermögens und des Nachlasses stellt. Welche Gefühle und Bedenken tauchen dabei auf? Welche Konsequenzen der eigenen Entscheidung erweisen sich als weise und welche enden in der Tragödie?

Zuerst ist zu erwähnen, dass das Haben als Paradigma der Existenzweise an sich eine ist, die sehr belastend sein kann. Ist man mit ihr sozialisiert und lebt in einer Gesellschaft, die die Anhäufung des sozialen und materiellen Kapitals als Erfolgsfaktor betrachtet, so wählt man den Weg des geringsten Widerstandes und nimmt ein Wertesystem an, in dem kognitive Dissonanzen vermieden werden können. Dieses Wertesystem existiert zwar neben anderen, erlaubt aber eine identitätsstiftende Internalisierung von Werten und Normen, sodass danach ausgerichtete Handlungskonsequenzen einem selbst gerechtfertigt und legitim erscheinen. Sie sind konsensfähig kritisierbar, werden aber zur Illustration der Problematik als gegebene Tatsache angenommen. Hat man in einer solchen Situation das Glück, Vermögenswerte zu verteilen oder zu empfangen, stehen alle Betroffenen vor einer schwierigen und zum Teil paradoxen Situation.

So nehmen wir König Lear als Beispiel, der in einem fortgeschrittenen Alter über sein Vermächtnis, seine Beziehung zu den Töchtern und seinen Geisteszustand nachdenkt. Das Vermächtnis eines Monarchen ist ziemlich klar, die Beziehung der Töchter zu Lear eher nicht, und sein Geist bereits durch das Alter oder eine möglicherweise voranschreitende Demenz getrübt. König Lear entscheide sich aus Eitelkeit und Dummheit – so Levmore – sein Vermögen und die Macht nach dem Wert der Liebe auszurichten, jedoch nicht seiner Liebe, sondern der Liebe zu ihm, für die erst ein Beweis erbracht werden müsste. Er verlangt von seinen drei Töchtern einen „Liebesbeweis“. Aber kann so ein Beweis nun aufrichtig sein? Die Ehrlichkeit könnte hier zum Enterben führen, sowohl bei mangelnder Liebe als auch bei unwürdigen Absichten der Angehörigen und Familienmitglieder. Was bei Lear der Tragödie geschuldet eben der Fall ist, denn er wird in übelster Weise hintergangen. Jenseits der Bühne kann uns eine solche Farce erspart bleiben, bar unserer Institutionen und Berater. Levmore dazu:

„Wir können einen Vertrag über einen Platz in einer Seniorengemeinschaft abschließen oder unser Vermögen verwalten, ohne dass Menschen eingreifen, denen wir nicht voll vertrauen. Aber es gibt eine Grenze für diese Eigenständigkeit, ob es uns gefällt oder nicht: Sofern wir nach Anzeichen dafür suchen, wie man uns, wenn wir wahrscheinlich pflegebedürftig sein werden, behandeln wird, ähneln wir alle Lear.“

Lears Tragödie warnt uns vor einer verschleppten Altersvorsorge und Nachlassverwaltung, die nicht nur die Familie, sondern ein ganzes Königreich in einen Krieg stürzen können. Die Erbschaft ist immer ein Drama, aber ohne die Hilfe eines Unparteiischen ist es zumeist eine Tragödie. Auch wenn es der seltenste Fall sein mag, dass wir ganze Königreiche zu übertragen haben, sehen viele in der Regelung ihrer Vermögenswerte die Möglichkeit, die potenzielle Begünstigten zu kontrollieren. Besonders wenn man vom irrationalen Egoismus getrieben wird oder zweckrational das Vermögen ungeteilt vererben möchte und seine Geliebten auf die Probe stellt. So sprechen natürlich viele Argumente dafür, die Königreiche – oder sagen wir mal ein Familienunternehmen – zu erhalten oder auszuweiten. Aber es kommen in der Geschichtsschreibung diverse Episoden des verwerflichen oder mörderischen Verhaltens vor, ganz unabhängig davon, wer der geplante Erbe sei. Im Zentrum der Geschichte steht immer die Moral.

Das Erben erscheint uns nicht als ein bloßes Verhalten, sondern als eine reflektierte Tathandlung, die sich bewusst oder intuitiv nach einem Ethos richtet.  Sei es eine Norm, eine Konvention oder ein Wertesystem – etwas muss der Tatsache und Tathandlung zwischengeschaltet sein, das diese rechtfertigt. Zumindest im Idealfall, denn Lear scheint einen weder gerechtfertigten noch pragmatisch funktionierenden Verteilungsschlüssel gewählt zu haben. In einer im weitesten Sinne liberalen Gesellschaft gilt die Norm der Gleichverteilung sowohl der Liebe als auch der materiellen Güter unter den Kindern, denn eine Bevorzugung kann nur schwer gerechtfertigt werden. Führt der eigene Ethos einen nicht zu der konventionellen Entscheidung durch die Befürchtung einer Spannung oder gar der Konflikte in der Familie, neigen sich wohlhabende Personen zu eher philanthropischen Tätigkeiten. Verbleiben wir aber vorerst bei der Entscheidung, das Erbe solle doch bitte in der Familie bleiben, und vertagen die Entscheidung für die Philanthropie auf den nächsten Beitrag.

In der modernen Gesellschaft ist man nun von der Erbkonvention der Machtfolge entkoppelt und ist – wie bereits erwähnt – daran interessiert, das Eigentum gleich unter den Kindern aufzuteilen, sodass auch diese die Norm verfolgen und eine stabile Prozedur bildet, die von Generation zu Generation praktiziert wird. Und sollte sich aus der Notsituation einer der Begünstigten oder aus dem Wunsch des Wohltäters nach einer pflegerischen Zuwendung die Abweichung von der Gleichverteilung ergeben, so kann diese durch einen Treuhandvertrag oder ein ähnliches Dokument als formulierte Bedingung festgehalten werden.

„Zumindest“ – so Levmore – „sollte es einfach sein, ein zuverlässiges Familienmitglied, einen Freund oder einen amtlichen Treuhänder damit zu beauftragen, ein bestimmtes Vermögen zu verwalten, um Familienmitglieder die Ausgaben zu erstatten, die sie im Interesse der alternden Person tätigen. Zur sicheren Version dieses Plans gehört die Verwendung einer Versorgungsrente, das heißt eines Finanzinstruments, das dem Rentenempfänger zu seinen Lebzeiten ein Einkommen zahlt.“

Es wäre durchaus wünschenswert, dass wir die Qualität unserer Pflege absichern, und nicht nur ihre Kosten. Über die Illusion der Kontrolle darüber sowie die Paradoxien der Großzügigkeit, werde ich in meinem nächsten Beitrag schreiben.

Von |Juni 10th, 2020|Kategorien: blog|0 Kommentare

Altern und Sein

Der Beruf des Steuerberaters, in den ich zum Teil natal, also durch die Geburt, hineingeworfen wurde, zum einen anderen Teil aber bewusst und frei für mich gewählt habe, treibt mich an, über meine angebotenen Leistungen nicht nur zweckrational und ökonomisch, sondern auch ethisch und menschlich zu reflektieren. Wie jeder andere Mensch werde ich älter. Und den demografischen Berichten zufolge mit mir auch unsere Gesellschaft. Der eigene Kontext der ökonomischen und lebensweltlichen Situation ändert zwar zumeist komplett den Umgang, zwingt aber nichtsdestotrotz jeden dazu, sich mit der Frage der Erbschaft zu beschäftigen. Die Vermögenden fragen sich, „wie“ sie vererben sollen, und die Nichtvermögenden fragen sich, „was“ sie vererben sollen. In kuriosesten Fällen können beide ein negatives Kapital vererben. Als Steuerberater bin ich zumeist mit dem Wie konfrontiert, das sich aber dank der Lebenserfahrung und Kompetenz schnell erledigt. Als Mensch beschäftigt mich hingegen das Was permanent. Ich frage mich, wie sich die Dialektik von Elend und Dekadenz aufheben lässt.

In meinem vorherigen Blogbeitrag habe ich mich dazu entschieden auf eine Interviewtour mit einer Ladung voll Fragen loszuziehen, sobald unsere pandemische Situation und mein Gewissen es erlauben. Meine erste Frage, mit der ich mich beschäftige, ist das Älterwerden. Und bevor die Fragen zu trivial werden, möchte ich mich selbst meiner Gedanken und der um mich herum liegenden Büchern  vergewissern. Ich werde mich mit den Aspekten des Habens und des Seins (ganz nach Erich Fromm) im Alter befassen, wobei mir Martha Nussbaum und Saul Levmore, sowie Shakespeare, Platon und Epikur Gesellschaft leisten werden.

Auch wenn das Altern ein sehr individuelles Geschehen ist und für jeden Menschen besonders, gibt es nichtsdestotrotz Merkmale, die verallgemeinerbar sind. Wir alle werden auf verschiedener Art erfahren, wir werden weise, wir lieben, wir fühlen uns in unserer sich verändernden Haut wohl oder übel. All das sind zwar keine notwendigen und schon gar nicht hinreichenden Bedingungen des Alterns, aber in der einen oder anderen Konstellation begleiten diese Erscheinungen uns durch das Leben. Gerade die Erfahrungen, die zur Weisheit werden, können für uns und unsere Mitmenschen unglaublich bereichernd und wertvoll sein. Und sind wir finanziell gut abgesichert, so genießen wir den Rückzug aus dem Arbeitsleben und vielleicht sogar die Weitergabe des Vermögens als Genugtuung durch philanthropische Wohltätigkeit und Altruismus. Im Vergleich zu unseren Vorfahren leben wir nun im Durchschnitt länger und haben relativ gesehen mehr. Auch der allgemeine Fortschritt erhöht zumindest die Auswahlmöglichkeiten. Aber auch die allgemeine Anonymität und die mit ihr einhergehende Isolation, insbesondere in den Großstädten, sind gestiegen. Martha Nussbaum schreibt dazu:

„Wenn eine isolierte Person beobachtet und reflektiert, ist es schwierig zu erkennen, ob sie selbstbezogener geworden ist, Kritik besser akzeptiert, anderen mehr Angst einflößt oder unzumutbare Forderungen an die Mitglieder der Familie stellt. Zur Selbsterkenntnis könnten daher Freundschaften und Gespräche erforderlich sein.“

Denn das Altern als Prozess ist sowohl ein Progress wie auch ein Regress. Neben der permanenten Aneignung der Welt  tritt ab einem unbestimmten, aber gewissen Moment der Zerfall des Seins und des Bewusstseins ein. Seine schmerzhafteste Manifestation ist aber der Verlust der Autonomie einer Person. Ein solcher Verlust ist freilich durch Prothetik kompensierbar. Und wo die Vorstellung der Prothese in den körperlichen Kategorien durch den technologischen Fortschritt offensichtlich ist, leuchtet diese in den Bereichen des Bewusstseins nicht sofort ein. Büßt das Subjekt einer Person an Autonomie ein, ist es prothetisch auf andere tüchtige Subjekte angewiesen. Es sind die Anderen, die für einen da sind, die uns beim Denken, Erinnern, Entscheiden und anderen Formen der freien Willensäußerung unterstützen. Das Altern ist somit notwendigerweise ein soziales Phänomen, solange der Anspruch erhoben wird, in Würde zu altern. Wir sind auf unsere Familien, Freunde, Liebende und andere Personen, die für uns da sind, angewiesen. Dieses Dasein ist keine Selbstverständlichkeit und wir müssen uns immer darauf vorbereiten.

Nussbaum expliziert anhand der Darstellungen von Shakespeares „Lear“ und deren abgewandelten Verfilmungen, wie gerade Wohlhabende durch die Illusion des Wohlstandes, „auf das Alter, das Kontrollverlust und Pflegebedürftigkeit mit sich bringt, schlichtweg nicht vorbereitet“ sind. Verschleppt man eine solche Vorbereitung, ist man vom Rollentausch überrumpelt – die Eltern werden rasch zu „Kindern“ und Kinder zu „Eltern“. Das Unvorbereitetsein produziert notwendigerweise ein Leben in kognitiven Dissonanzen. Der Prozess des Zerfalls und mit die ihm einhergehende Machtlosigkeit sind zwar hinauszuzögern, aber nicht zu vermeiden. Eine aber sich nicht dem Nihilismus und Defätismus verfallende Handhabung des Prozesses, ist die Möglichkeit einer frühzeitigen und selbstbestimmten Auseinandersetzung. Der bewusst gestaltete Prozess des Zerfalls, stellt die Hinwendung vom Zwang der Enteignung der eigenen Existenz hin zu Gabe. Menschen werden zu Organspendern, teilen ihre Erfahrungen und Weisheit, schreiben ein Testament, mit dem sie ruhigen Gewissens altern können. Selbst die gängigen Instrumente der Sozialversicherung, wie die Abgaben in die Rentenkassen und die Pflegeversicherung, betreffen uns alle und sind notwendige Institutionen eines Staates, der an der Würde seiner Bürger interessiert ist. Seien wir doch glücklich, nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika zu leben. Eine Verallgemeinerung des Alters ist letztlich nur bedingt möglich und erwünscht – sie stellt das uns allen gemeinsam Unvermeidbare und Mögliche dar, aber jeder Fall des Alterns und seiner Gestaltung ist immer noch individuell und persönlich kompetent zu betreuen.

Von |Juni 3rd, 2020|Kategorien: blog|0 Kommentare

Der innere Monolog zum öffentlichen Dialog

Das zähe Fließen der Zeit. In einem Altbau dauert es ein bisschen länger, bis dir die Decke auf den Kopf fällt. In meinem Fall werde ich eher von einer der einstürzenden Büchersäulen erschlagen, die sich um mich herum einen Tempel zu errichten scheinen. Der Bildungsbürgerturm. Aus Elfenbein, natürlich, auf den Schultern von Riesen erbaut. Die Säulen werden die Decke zumindest stützen. Sein und Zeit. Sein und Nichts. Prozess und Realität…Wahrscheinlich wird es eher der neue Zweibänder von Habermas sein – die zwei Bücher liegen ganz oben auf einer der Säulen. Frisch geliefert. Duften nach Schlafmohn des Glaubens und Granit des Wissens. Als Steuerberater und Salonbetreiber fühlte ich mich schon immer mitten im Leben, umgeben von Menschen, umgeben von der Welt. Es war eine aufregende, gärende, sich um mich drehende Welt. Aber nicht aus der egozentrischen Perspektive drehte die Welt sich um mich, sondern wegen ihrer schwindelerregenden Beschleunigung, im Hamsterrad rotierenden Karrieremenschen und zirkulären Argumentationen. In einer solchen Welt kommt jegliche Antwort zu den Fragen immer zu spät. Wenn früher der liebe Sokratis noch auf den Markt ging, um seine Fragen zu stellen, kommt heute der Markt selbst zu uns nach Hause. Und die einzige Frage, die ihn interessiert, ist die Nachfrage. So wuchs mein Angebot an Fragen – sagen wir mal – inflationär. Ah ja, ich bin ja auch noch Stiftungsexperte und die Ko·ry·phäe (Wörterbuch zu!) in Sachen Erbschaftsteuer. Wie lautet das Sprichwort noch mal? Time is money! Obwohl, ne, „time is honey“ hieß es früher bei Franklin. Das zähe Fließen der Zeit.

Obwohl heute hieße es eher „der rasende Stillstand“, fällt mir Virilio ins Wort. Ich stimme ihm zu – der Honig der Corona-Lethargie legte sich langsam um die sich um mich drehende Welt. Man kann die Welt nicht digitalisieren. Zumindest nicht mit der narkoleptischen Politik, die die Digitalisierung verschlafen hat. Die digitale Welt ist eine andere, eine neue, eine Parallelwelt, die sich beschleunigt. Zumindest so gut es der Breitbandanschluss erlaubt. Man kann höchstens in die Schnittstelle, in das wunderschön designte Interface zwischen der realen und der digitalen Welt mit einem Vorschlaghammer, gegossen aus unseren Daten, ein Fenster einschlagen. Oder mehrere. Windows! Und ich lehne mich gern aus diesen Windows weit hinaus. Ich fühle mich dabei wie in einem ICE, in dem alles stillsteht, aber tut man den Kopf aus dem Fenster bei voller Geschwindigkeit, ist die Schnauze voll und die Haare raufen sich zu Berge. Sie ist ja schön und gut, diese Welt. Aber sie reicht mir nicht. Ich brauche einen Körper. Einen Körper, den man wachrütteln kann. Raus aus der Lethargie. Klatsche links, Klatsche rechts. Bitte wachen Sie auf, ich habe Fragen!

Und so entschließe ich mich auf eine Corona-konforme Reise. Mit einem Frachter, dessen Ladelücken voll mit zollfreien Fragen geladen sind. Ich schaue in die Inventarliste: die Sinnfragen, Lebensfragen, Altersfragen, Angstfragen, Todesfragen, Fragebögen, Frageschilder…Frageschwerter? Ah, ne, die werfen wir übers Bord in Wasser. Damit kann man doch nur in See stechen. Ich klopfe mir auf die Schenkel. Die Matrosen werden rot und gehen in den Keller lachen. Rote Matrosen – das heißt wohl nicht umsonst: die Schiffsbesatzung. Ich streiche den Winterpalast von meinen Reisezielen. Ich schweife ab – wo waren wir? Ah ja – in See stechen. Odyssee. Hin an den Sirenen vorbei, vom Mythos in die Aufklärung. Und wenn wir einen Schiffbruch erleiden, dann bitte mit Zuschauern, Herr Blumenberg! Ahoi.

Von |April 27th, 2020|Kategorien: blog|0 Kommentare