Der Beruf des Steuerberaters, in den ich zum Teil natal, also durch die Geburt, hineingeworfen wurde, zum einen anderen Teil aber bewusst und frei für mich gewählt habe, treibt mich an, über meine angebotenen Leistungen nicht nur zweckrational und ökonomisch, sondern auch ethisch und menschlich zu reflektieren. Wie jeder andere Mensch werde ich älter. Und den demografischen Berichten zufolge mit mir auch unsere Gesellschaft. Der eigene Kontext der ökonomischen und lebensweltlichen Situation ändert zwar zumeist komplett den Umgang, zwingt aber nichtsdestotrotz jeden dazu, sich mit der Frage der Erbschaft zu beschäftigen. Die Vermögenden fragen sich, „wie“ sie vererben sollen, und die Nichtvermögenden fragen sich, „was“ sie vererben sollen. In kuriosesten Fällen können beide ein negatives Kapital vererben. Als Steuerberater bin ich zumeist mit dem Wie konfrontiert, das sich aber dank der Lebenserfahrung und Kompetenz schnell erledigt. Als Mensch beschäftigt mich hingegen das Was permanent. Ich frage mich, wie sich die Dialektik von Elend und Dekadenz aufheben lässt.

In meinem vorherigen Blogbeitrag habe ich mich dazu entschieden auf eine Interviewtour mit einer Ladung voll Fragen loszuziehen, sobald unsere pandemische Situation und mein Gewissen es erlauben. Meine erste Frage, mit der ich mich beschäftige, ist das Älterwerden. Und bevor die Fragen zu trivial werden, möchte ich mich selbst meiner Gedanken und der um mich herum liegenden Büchern  vergewissern. Ich werde mich mit den Aspekten des Habens und des Seins (ganz nach Erich Fromm) im Alter befassen, wobei mir Martha Nussbaum und Saul Levmore, sowie Shakespeare, Platon und Epikur Gesellschaft leisten werden.

Auch wenn das Altern ein sehr individuelles Geschehen ist und für jeden Menschen besonders, gibt es nichtsdestotrotz Merkmale, die verallgemeinerbar sind. Wir alle werden auf verschiedener Art erfahren, wir werden weise, wir lieben, wir fühlen uns in unserer sich verändernden Haut wohl oder übel. All das sind zwar keine notwendigen und schon gar nicht hinreichenden Bedingungen des Alterns, aber in der einen oder anderen Konstellation begleiten diese Erscheinungen uns durch das Leben. Gerade die Erfahrungen, die zur Weisheit werden, können für uns und unsere Mitmenschen unglaublich bereichernd und wertvoll sein. Und sind wir finanziell gut abgesichert, so genießen wir den Rückzug aus dem Arbeitsleben und vielleicht sogar die Weitergabe des Vermögens als Genugtuung durch philanthropische Wohltätigkeit und Altruismus. Im Vergleich zu unseren Vorfahren leben wir nun im Durchschnitt länger und haben relativ gesehen mehr. Auch der allgemeine Fortschritt erhöht zumindest die Auswahlmöglichkeiten. Aber auch die allgemeine Anonymität und die mit ihr einhergehende Isolation, insbesondere in den Großstädten, sind gestiegen. Martha Nussbaum schreibt dazu:

„Wenn eine isolierte Person beobachtet und reflektiert, ist es schwierig zu erkennen, ob sie selbstbezogener geworden ist, Kritik besser akzeptiert, anderen mehr Angst einflößt oder unzumutbare Forderungen an die Mitglieder der Familie stellt. Zur Selbsterkenntnis könnten daher Freundschaften und Gespräche erforderlich sein.“

Denn das Altern als Prozess ist sowohl ein Progress wie auch ein Regress. Neben der permanenten Aneignung der Welt  tritt ab einem unbestimmten, aber gewissen Moment der Zerfall des Seins und des Bewusstseins ein. Seine schmerzhafteste Manifestation ist aber der Verlust der Autonomie einer Person. Ein solcher Verlust ist freilich durch Prothetik kompensierbar. Und wo die Vorstellung der Prothese in den körperlichen Kategorien durch den technologischen Fortschritt offensichtlich ist, leuchtet diese in den Bereichen des Bewusstseins nicht sofort ein. Büßt das Subjekt einer Person an Autonomie ein, ist es prothetisch auf andere tüchtige Subjekte angewiesen. Es sind die Anderen, die für einen da sind, die uns beim Denken, Erinnern, Entscheiden und anderen Formen der freien Willensäußerung unterstützen. Das Altern ist somit notwendigerweise ein soziales Phänomen, solange der Anspruch erhoben wird, in Würde zu altern. Wir sind auf unsere Familien, Freunde, Liebende und andere Personen, die für uns da sind, angewiesen. Dieses Dasein ist keine Selbstverständlichkeit und wir müssen uns immer darauf vorbereiten.

Nussbaum expliziert anhand der Darstellungen von Shakespeares „Lear“ und deren abgewandelten Verfilmungen, wie gerade Wohlhabende durch die Illusion des Wohlstandes, „auf das Alter, das Kontrollverlust und Pflegebedürftigkeit mit sich bringt, schlichtweg nicht vorbereitet“ sind. Verschleppt man eine solche Vorbereitung, ist man vom Rollentausch überrumpelt – die Eltern werden rasch zu „Kindern“ und Kinder zu „Eltern“. Das Unvorbereitetsein produziert notwendigerweise ein Leben in kognitiven Dissonanzen. Der Prozess des Zerfalls und mit die ihm einhergehende Machtlosigkeit sind zwar hinauszuzögern, aber nicht zu vermeiden. Eine aber sich nicht dem Nihilismus und Defätismus verfallende Handhabung des Prozesses, ist die Möglichkeit einer frühzeitigen und selbstbestimmten Auseinandersetzung. Der bewusst gestaltete Prozess des Zerfalls, stellt die Hinwendung vom Zwang der Enteignung der eigenen Existenz hin zu Gabe. Menschen werden zu Organspendern, teilen ihre Erfahrungen und Weisheit, schreiben ein Testament, mit dem sie ruhigen Gewissens altern können. Selbst die gängigen Instrumente der Sozialversicherung, wie die Abgaben in die Rentenkassen und die Pflegeversicherung, betreffen uns alle und sind notwendige Institutionen eines Staates, der an der Würde seiner Bürger interessiert ist. Seien wir doch glücklich, nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika zu leben. Eine Verallgemeinerung des Alters ist letztlich nur bedingt möglich und erwünscht – sie stellt das uns allen gemeinsam Unvermeidbare und Mögliche dar, aber jeder Fall des Alterns und seiner Gestaltung ist immer noch individuell und persönlich kompetent zu betreuen.